“Children’s Occupational Justice” in occupational therapists’ everyday practices (german)

Sarah Kufner

„Occupational Justice – Betätigungsgerechtigkeit ist nicht nur ein Konzept. Dahinter steckt die Vision von einer gerechteren Welt. Einer Welt, in der alle Menschen das tun können, was ihnen wirklich wichtig ist: an bedeutsamen Betätigungen teilhaben.“ (Kranz, 2018)

Die Konzeptionalisierung der Occupational Justice wie auch deren weitere terminologische Ausdifferenzierung (z.B. Occupational Deprivation, Occupational Marginalisation, Occupational Apartheid) erfolgt vorrangig aus einer westlich sozialisierten Professionsentwicklung der Ergotherapie. Dies gilt es zu beachten, anzuerkennen und in einer fortlaufenden Professionsentwicklung weiterzuentwickeln und zu nutzen – um globale Missstände weiter aufzudecken und zu verändern.

Eine kritische Auseinandersetzung mit der konzeptionellen Entwicklung der Occupational Justice in der Literatur der Occupational Science und Occupational Therapy unternahmen Durocher, Gibson und Rappolt (2014) mittels Scoping Review. Sie unterschieden für ihre Datenanalyse alltägliche und extreme Situationen – in der Annahme, dass für praktisch tätige Ergotherapeut:innen, die in traditionellen ergotherapeutischen Settings arbeiten, z.B. Krieg, Gefangenschaft oder Flucht als extrem und damit „outside the arena of everyday occupational therapy“ wahrgenommen würde. Beispielhaft wurden als alltäglich identifizierte Faktoren, z.B. ein Mangel an finanziellen Ressourcen, die geografische (Wohn-) Lage, ein Mangel an sicheren Spiel- und Lernbereichen oder zugänglichen Verkehrsmitteln sowie die Zuschreibung eines Behindertenstatus oder Geschlechterzuschreibungen identifiziert.

Die Forscher argumentieren, dass „the act of helping clients engage in occupations and educating against stigma represents a political decision, be it implicit or explicit, to protect clients`rights (…)“. (Durocher et al., 2014). Klientenzentriertes, berufliches Handeln ist somit ein „justice-promoting effort“, ein „act of justice“.

„Facing up to occupational injustice means that people have to recognize it.“ 

Occupational Justice und Occupational Injustice in der Arbeit mit Kindern/Familien

In der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen vom 20.11.1989 verpflichten sich die Vertragsstaaten über die Elternverantwortung hinaus, positive Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu schaffen. Die Kinderrechtskonvention ist somit ein Zeichen von Achtung und Verantwortlichkeit der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber Kindern in der Welt. Alle Kinder haben die gleichen Rechte. Einige der Rechte beinhalten z.B. das Recht gesund zu leben, Geborgenheit zu finden und keine Not zu leiden oder das Recht zu spielen und sich zu erholen, zu lernen und eine Ausbildung zu machen, die ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten entspricht. Kinder haben auch das Recht bei allen Fragen, die sie betreffen, mitzubestimmen und zu sagen, was sie denken. Kinder mit Behinderung haben zudem das Recht auf besondere Fürsorge und Förderung, damit sie aktiv am Leben teilnehmen können.

In der Ausübung einer klientenzentrierten und betätigungsbasierten – und/ oder betätigungsorientierten Ergotherapie mit Kindern, Eltern, Familien und den für diese bedeutsamen Bezugspersonen können wir diese aus Perspektive der Occupational Justice empowern, d.h. wir können sie dazu befähigen, ihre Autonomie und Selbstbestimmung zu erhöhen indem wir ihnen z.B. ermöglichen, ihre Interessen (wieder) eigenmächtig, selbstverantwortlich und selbstbestimmt zu vertreten, sowie Gestaltungsspielräume, eigene Stärken und Ressourcen wahrzunehmen und zu nutzen. Da das Ausmaß, indem Menschen über Ressourcen verfügen Gesundheit und Wohlbefinden unmittelbar betrifft, stehen gesundheitliche Chancen in Bezug auf Gerechtigkeit auch in Verbindung mit Möglichkeiten, auf Sinn gebende Weise zu handeln und sich verwirklichen zu können (Costa, 2013).

 „A focus on occupational justice means, that we look at diverse occupational needs, strengths, and potential of individuals and groups, while at the same time considering issues of rights, fairness, empowerment, and enablement of occupational opportunities. (Stadnyk, Townsend & Wilcock, 2010, S.308-309)“.

Als Expert:innen für Betätigung (DVE, 2019; Peterko et al., 2019) verfügen Ergotherapeut:innen über ein umfangreiches Kompetenzprofil, das sie vielfältig dazu befähigt, Menschen, die mit ihnen in eine therapeutische Beziehung treten, professionell zu begleiten. So können sie als Fürsprecher:in ein erstes Bewusstsein dafür schaffen, dass Kinder, Eltern, Familien ein Recht darauf haben, sich „in Betätigungen zu engagieren, die sich positiv auf ihr eigenes Wohlbefinden und das ihrer Gemeinde auswirken.“

Als Fürsprecher:innen (DVE, 2019; Peterko et al., 2019) für das Kind können Ergotherapeut:innen Eltern empowern, sich für die Rechte ihres Kindes einzusetzen. Als ein erster Schritt kann dies bedeuten, die Selbstreflexion der Eltern hinsichtlich der Ausübung ihrer elterlichen Verantwortung anzuregen: z.B. Kann ich meinem Kind Schutz und Geborgenheit geben? (Wenn nicht, wie / wodurch könnte dies möglich werden?). Hat mein Kind die Möglichkeit zu spielen, zu lernen, sich zu erholen? (Wenn nicht, wodurch könnte dies möglich werden?) Kann mein Kind am Leben in der Gemeinschaft teilhaben? (Wenn nicht, wen oder was braucht es, damit dies möglich wird?).

Diese gemeinsame Betrachtung unter dem Gesichtspunkt des Rechts auf …kann bei Eltern auch eine Reflexion eigener Rechte und Ressourcen freisetzen: Was ist für uns als Eltern bedeutsam (wieder) zu tun? Haben wir die Möglichkeiten dazu? (Wenn nein, wen/ was braucht es für eine Veränderung? Haben wir die Fähigkeiten dazu? (Wenn nein, wen/ was braucht es für eine Veränderung?).

Im Rahmen der (ergo-)therapeutischen Beziehung stehen hier das Eröffnen von Zugängen und das Verfügbarmachen von Ressourcen seitens der Umwelt wie auch der Person selbst im Mittelpunkt (Law et al., 1996). Das Recht auf …schließt auch ein, dass eine Unverfügbarkeit (z.B. Therapeut:innenmangel, lange Wartezeiten, keine Ressourcen zur Überwindung sprachlicher Barrieren wie z.B. Dolmetscher, Übersetzungssoftware etc.) nach einem partizipativen Prozess verlangt in dem individuelle Lösungen im persönlich-spezifischen Kontext entwickelt werden.

„As with other issues of justice, occupational injustice can be confronted by empowering individuals, communities, and whole countries to improve their material, psycho-social, and political circumstances.“  (Wilcock & Hocking, 2015).

Das Recht schließt auch ein, bedeutsame Betätigungen weiter in den Gemeindekontext zu denken: „Was tun wir (Familie) wo und mit wem gerne? Mit/durch was leisten wir (Familie) einen Beitrag zu unserem Leben in der Gemeinde?“ Daraus können auch kollektive Aktivitäten entstehen, durch die Menschen ihre Lebensbedingungen selbst positiv verändern sowie ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden stärken können.

Eine aktuelle Stellungnahme des Weltverbands der Ergotherapeut:innen (WFOT) zur (Kriegs-) Situation in der Ukraine vom 02. März 2022 schließt passend mit folgender Aussage: „As an international occupational therapy community, we remain united as a profession to advocate human rights and occupational justice“. (WFOT, 2022)

Zur Autorin: Sarah Kufner

Ergotherapeutin und Systemischer Coach (DGSF)
Interprofessionelle Arbeit mit Kindern und Familien (Sozialpädiatrie)
Autorin (gemeinsam mit Nadine Scholz-Schwärzler) zum Ergotherapeutischen Coaching in der Pädiatrie (2019)
Dozentin, Gründerin des empowerment-project (www.empowerment-project.de); seit 2017

Quellenangabe

Bailliard, A., Aldrich, R. M., Sakellariou, D., & Pollard, N. (2016). Occupational justice in everyday occupational therapy practice. Occupational therapies without borders: Integrating justice with practice, 83-94.

Costa, U. M. (2013). Theorie-Praxis-Implikationen eines fähigkeitsorientierten Ansatzes: Ergotherapie und der Capability Approach nach Amartya Sen. In Der Capability Approach und seine Anwendung (pp. 245-270). Springer VS, Wiesbaden.

Costa, U., Pasqualoni, P.-P., & Wetzelsberger, B. (2016). Betätigungsgerechtigkeit als Dimension gesundheitlicher Chancengerechtigkeit: Handlungswissenschaftliche Zugänge. Abgerufen am 06.03.2022 von http://ffhoarep.fh-ooe.at/bitstream/ 123456789/691/1/126_350_Costa_FullPaper_dt_Final.pdf

Durocher, E., Gibson, B. E., & Rappolt, S. (2014). Occupational justice: A conceptual review. Journal of Occupational Science21(4), 418-430.

Deutscher Verband der Ergotherapeuten e.V. (DVE). (2019). Kompetenzprofil Ergotherapie. Abgerufen am 06.03.2022 von https://dve.info/resources/pdf/ergotherapie/kompetenzprofil-ergotherapie/3633-2019-kompetenzprofil/file

Hocking, C., & Townsend, E. (2015). Driving social change: Occupational therapists’ contributions to occupational justice. World Federation of Occupational Therapists Bulletin71(2), 68-71.

Kranz, F. (2018). Occupational Justice-Recht auf Betätigung. ergopraxis11(02), 10-11.

Law, M., Cooper, B., Strong, S., Stewart, D., Rigby, P., & Letts, L. (1996). The person-environment-occupation model: A transactive approach to occupational performance. Canadian journal of occupational therapy, 63(1), 9-23.

le Granse, M. (2020). Werden wir mit unseren Modellen allen Klienten gerecht?–Kulturelle Vielfalt. ergopraxis13(02), 44-47.

Peterko, Y. K., Unterweger, K., Wagner, C., Stoffer-Marx, M., Dürauer, J., Lettner-Hauser, K., Manolopoulos, N., Nienhusmeier, B. & Garstenauer, C. (2019). Das Kompetenzprofil der Ergotherapie. Wien: Ergotherapie Austria.

Stadnyk, R., Townsend, E., & Wilcock, A. (2010). Occupational justice. In C. H. Christiansen & E. A. Townsend (Eds.), Introduction to occupation: The art and science of living (2nd ed., pp. 329- 358). Upper Saddle River, NJ: Pearson Education.

WFOT. (2022). Public statement. Abgerufen am 06.03.2022 von https://www.wfot.org/resources/public-statement.

Wilcock, A. A., & Hocking, C. (2015). An occupational perspective of health (3rd ed.). Thorofare, NJ: Slack.

Weiterführende Quellen

www.kinderrechte.de

www.bmfsfj.de (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) 

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